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"Vielleicht verrotte ich einfach im Gefängnis"

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29.5.25

Proteste, Pressefreiheit, Gefängnis – Nach der Verhaftung von Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu gehen in der Türkei erneut Tausende auf die Straße. Journalist Deniz Yücel spricht mit uns über Pressefreiheit – und seine größte Angst im türkischen Gefängnis

"Vielleicht verrotte ich einfach im Gefängnis"

ERHAN GÜLER

Rita Schuhmacher (ver.di): Trotz Demonstrationsverboten und massiver Polizeigewalt protestieren in der Türkei erneut zahlreiche Menschen. Warum nehmen sie dieses enorme Risiko auf sich?


Deniz Yücel: Weil sie nicht nur für den Bürgermeister oder die Oppositionspartei CHP demonstrieren, sondern für sich selbst. Vor allem die jungen Leute. Ihr ganzes Leben lang haben sie nur eine Türkei erlebt, die von Erdoğan regiert und zunehmend autokratischer wurde. Sie kämpfen für ein besseres Leben, für eine bessere Zukunft in einem besseren Land. Die Proteste auf der Straße haben inzwischen etwas nachgelassen. Das liegt in der Natur der Sache: Du kannst nicht dauerhaft auf der Straße sein, wenn es keine realistische Aussicht auf einen baldigen Rücktritt der Regierung gibt, sonst verheizt du die Leute. Darum scheint es mir richtig, wenn die Opposition zwischendurch einen Gang runterschaltet und auf Protestformen wie Boykottkampagnen zurückgreift, an denen sich Menschen engagieren können, ohne ein persönliches Risiko einzugehen. 


Dutzende Journalist*innen wurden bereits zu teils langjähriger Haft verurteilt. Seit dem Putschversuch von 2016 gehen Regierung und Justiz härter denn je gegen kritische Journalist*innen vor.


Die Einschüchterungsversuche laufen aktuell gezielter. Verglichen mit der politischen Bedeutung der Verhaftung İmamoğlus ist die Festnahme eines Journalisten natürlich weniger dramatisch – vor allem, wenn dieser im Ausland nicht so bekannt ist. Aber hier mal ein Beispiel: Am selben Tag der Verhaftung İmamoğlus wurde auch İsmail Saymaz festgenommen, ein sehr bekannter, investigativer Journalist mit großer Reichweite, großer Bekanntheit und hoher Glaubwürdigkeit. Der Vorwurf gegen ihn lautet – anders als damals bei mir – nicht Terrorpropaganda, sondern versuchter Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten. Darauf steht lebenslange Haft unter erschwerten Bedingungen.


Ist überhaupt noch unabhängiger Journalismus oder journalistischer Widerstand möglich?


Dieses Instrument – lebenslange Haft wegen angeblichem Umsturzversuch – wird jetzt systematisch eingesetzt. Die Gezi-Proteste gelten ihnen als "Putschversuch", und damit können sie jeden anklagen, den sie einschüchtern wollen. Menschenrechtsaktivist Osman Kavala war der erste, viele andere wie Can Atalay – ein sehr bekannter Menschenrechtsanwalt – folgten. Auch er wurde viele Jahre später im Zusammenhang mit Gezi verhaftet und zu 18 Jahren Haft verurteilt. Man muss damit rechnen, dass Erdoğan alles tun wird, um sich an der Macht zu halten. Alles.


Das sogenannte Desinformationsgesetz trat vor knapp zwei Jahren in Kraft und richtet sich nicht wirklich gegen Falschnachrichten, sondern soll kritische Stimmen mundtot machen. Das betrifft inzwischen auch Algorithmen, die von Behörden kontrolliert werden.


Einschüchterung, Drohungen, Repression gegen Journalisten sind in der Türkei nichts Neues. Was aktuell aber hinzukommt: Die unabhängigen Medien, die alle im Netz arbeiten, geraten massiv unter Druck. Während die staatlichen und regierungsnahen Nachrichtensender während der Proteste gegen die Verhaftung İmamoğlus Backrezepte sendeten, berichteten diese unabhängigen Medien direkt von den Kundgebungen. Anfang März änderte der Google-Mutterkonzern Alphabet dann die Algorithmen. Dadurch flogen viele unabhängige Medien aus den Google News und verloren massiv an Einnahmen. Ein Beispiel: das Portal Duvar, gegründet 2016 kurz nach dem Putschversuch unter sehr schwierigen Bedingungen. Dort arbeiteten viele renommierte Journalisten, die zuvor in großen Medienhäusern tätig waren und dort nicht mehr arbeiten wollten oder konnten. Wegen dieser Algorithmus-Änderung durch Google musste Duvar schließen, weil sie ihre Leute nicht mehr bezahlen konnten.


War das einer der Gründe, warum PEN Berlin eine Spenden-Kampagne initiiert hat?


Ja absolut – als Reaktion auf die verschärfte Repression, aber auch auf den Wegfall von Werbeeinnahmen, die für die unabhängigen Medien überlebenswichtig sind. In der Türkei gibt es keine Tradition von Paywalls. Manche Medien bieten freiwillige Spendenmöglichkeiten an. Und die Medien, um die es hier geht, sind keine Nischenprodukte, sie beschäftigen viele Mitarbeiter und sind im Wesentlichen auf Werbeeinnahmen angewiesen. Als PEN Berlin hatten wir einige Medien für unsere Unterstützung im Blick, haben uns zusätzlich mit anderen Organisationen und Fachleuten beraten, welche infrage kommen. Leider haben uns auch alle um Diskretion gebeten. Das Risiko vor weiteren Repressionen ist zu groß. Deshalb läuft diese Kampagne ohne die Geschichten und Gesichter, die wir gerne gezeigt hätten. Aber ich hoffe, dass die Kolleginnen und Kollegen und auch die Gewerkschaften wie ver.di, die uns unterstützen, uns vertrauen, dass wir sorgfältig ausgewählt haben, wem das Geld zugutekommt. Und natürlich: Das gespendete Geld wird ausschließlich für diesen Zweck eingesetzt. Jeder einzelne Cent.


Du hast 2017 auf Twitter, heute X , geschrieben: "Für mich und alle meine inhaftierten türkischen Kollegen ist es sehr wichtig, dass die Welt uns nicht vergessen hat." Wie wichtig ist diese internationale Solidarität?


Solidarität ist ein wichtiges Wort – für mich ein heiliges. Aber es wurde in den letzten Jahren sehr verramscht. Solidarität ist nichts, was man allein mit einem Like erledigt hat. Solidarität braucht einen Anlass und sie braucht einen Einsatz. Und ich weiß aus eigener Erfahrung: Wenn du weggesperrt bist, dann hast du das Gefühl – oder zumindest die Angst –, dass draußen das Leben weitergeht, während du einfach verschwindest. Man sitzt da nicht, weil man Pech hatte oder in eine Kneipenschlägerei geraten ist, sondern weil man seinen Job als Journalist gemacht hat. Trotzdem denkt man: Vielleicht vergessen sie mich. Vielleicht verrotte ich im Gefängnis. Genau deswegen ist der erste Adressat von Solidarität der Mensch, um den es gerade geht. Die zweite Ebene von Solidarität ist, die eigene Regierung unter Druck zu setzen. Damit sie gegenüber den Verantwortlichen in anderen Ländern Druck aufbaut. Die erreicht man aus Deutschland oft schwer. Aber manchmal geht es doch.


Es gibt in Deutschland keine staatliche Zensur – aber zunehmend Gewalt, Einschüchterungen und politische Stimmungsmache gegen Medien. Seit 2023 haben sich die Angriffe auf Journalist*innen mehr als verdoppelt. Hast du das Gefühl, dass da politisch etwas passiert?


Das ist weniger eine Frage des Gefühls als der Faktenlage. In den letzten Jahren gab es vermehrt gewalttätige Angriffe auf Journalisten – etwa im Kontext der Corona-Demos, rechtsextremistischen Protesten oder zuletzt im Zusammenhang mit den pro-palästinensischen Demonstrationen. Aber wir hatten es in den letzten Jahren mit einer Bundesregierung zu tun, die immer wieder – im Namen einer guten Sache, etwa im Kampf gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus oder Rassismus – dazu neigte, die Presse- und Meinungsfreiheit zu behandeln, als wären sie das Kleingedruckte auf einem Beipackzettel. Das hat sich zum Beispiel beim Verbot der Zeitschrift Compact gezeigt: Man hat einem rechtsextremen Spinnermagazin die Möglichkeit geschenkt, sich als Hüter der Pressefreiheit aufzuspielen. Denn das Verfahren gegen Compact war von Anfang an juristisch fragwürdig – der Haftbefehl wurde später vom Bundesverwaltungsgericht aufgehoben. Das hätte man vorher wissen können.


Was hättest du erwartet?


Man muss klar machen: Kein guter Zweck, keine noch so noble Absicht steht über den Grundrechten. Natürlich: In Deutschland kann man sich auf Gerichte verlassen. Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten 50 Jahren eine ständige Rechtsprechung entwickelt, die klar sagt: Im Zweifel für die Pressefreiheit, für die Meinungsfreiheit, für die Kunstfreiheit. Aber ich sehe mit großer Besorgnis, dass die Exekutive immer öfter denkt, sie könne im Namen einer guten Sache Grundrechte einfach so beiseiteschieben. Und ich fürchte, dass die neue Koalition da weitermachen wird, wo die alte aufgehört hat. Etwa bei dem Vorschlag, gezielte Desinformation unter Strafandrohung zu stellen. Das klingt auf den ersten Blick gut – ist aber wirklich keine gute Idee. Denn: Der Trick, unliebsame Berichterstattung als Desinformation zu brandmarken, haben schon andere entdeckt: Viktor Orbán und Recep Tayyip Erdoğan. Und wir haben während der Corona-Pandemie gesehen, dass bestimmte Informationen, die damals als "falsch" galten, sich später als zutreffend erwiesen haben. Journalismus und Wissenschaft können im besten Fall nur Annäherungen an Wahrheit liefern, ein Wahrheitsgesetz aber ist ein Irrweg.


Interview: Rita Schuhmacher

© 2025 Rita Schuhmacher

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